Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit

und in der Nachkriegszeit

 

Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit

Die letzten Monate des Zuchthauses

Das Zuchthaus Hameln während der Beschießung der Stadt

 

Am Mittwoch, dem 4. April wurden die Einwohner von der bevorstehenden Sprengung der Weserbrücken in Kenntnis gesetzt. Die Stadt war in Verteidigungszustand versetzt worden. Die amerikanischen Soldaten sollten an der Weserlinie aufgehalten werden.

 
Der Häftling Hans Bielefeld berichtet für den 3. und 4. April:

"Dann rummelt es hinter dem Klüt. Es ist Nacht und ich liege zusammengekauert auf dem Boden und döse. Im Halbschlaf höre ich ein paar dumpfe Schläge ganz weit in der Ferne. Ich beachte sie kaum. Aber bald wiederholen sie sich.

Jetzt hören wir es deutlich. Geschützfeuer, Panzerabwehr. Von drüben vom jenseitigen Ufer der Weser kommt es noch weit zwar im Lipper Land. Wir können uns nicht täuschen. Das ist keine Illusion. Das ist die Front! ...

Ein Gerücht geht um unter uns. Die Stadt soll in Verteidigungszustand gesetzt werden, heut nacht sollen die Weserbrücken in die Luft gehen. Da bricht eine Panik unter uns aus. Vierhundert Mann wehrlos zur Widerstandslosigkeit verdammt, wandelnde Leichname mehr als lebendige Wesen. Was wird man mit uns jetzt anfangen? Der Volkssturm ist rausgezogen, die Transportfähigen sind abmarschiert. Ein paar hundert Todeskandidaten auf den Lazarettsälen und ein paar hundert Übriggebliebene zusammengefegt aus allen Schlupflöchern Europas - was wird man mit uns jetzt machen?

Wird man uns mit in die Luft jagen, wird man uns vergiften an die Wand stellen oder uns mit Mann und Maus unter Artilleriefeuer begraben? An diesem Abend tun wir kein Auge zu. Die Franzosen sitzen wieder mit mir auf derselben Zelle. Wir sehen von unserem Zellenfenster aus auf der anderen Seite der Weser den endlosen Strom der Flüchtenden vor der feindlichen Front. Autos Karren Pferdewagen Soldaten in Trupps und Haufen von Zivilisten mit Handwägen und Fahrrädern dazwischen Wehrmachtsfahrzeuge Kradmelder Panzer und Panzerspähwagen. Und immer wieder dazwischen aufleuchtend das Rote Kreuz Sankas und Lkw.s."

"Die Ruderboote und Motorboote sind am Nachmittag alle an das Ostufer gebracht worden. Der Ari-Beschuß kommt näher. Wir schauen wie gebannt auf die Uferstraße."
Bielefeld S. 69-72 (mit Auslassungen)

 
Am Donnerstag, dem 5. April wurden gegen 2 oder 3 Uhr morgens von der deutschen Wehrmacht die beiden Hamelner Weserbrücken gesprengt.

"Gegen 2 Uhr früh wird die Weserbrücke gesprengt, eine halbe Stunde später die Eisenbahnbrücke. Die Fensterscheiben klirren, ein Hagel von Steinen und Eisenteilchen ergießt sich über das Anstaltsgelände. Dann ist es totenstill. Wie als ob ein furchtbares Untier Atem holt zu dem vernichtenden Sprung.

Unter dem Schutz der Dunkelheit hat der Amerikaner am linken Weserufer Stellung bezogen. Mit dem Anbruch der Dämmerung beginnt die Schießerei. Die Stadt liegt unter dem Feuer der feindlichen Batterien. Die deutsche Abwehr ist schwach und unregelmäßig und der Amerikaner operiert vorsichtig. Es ist wie ein Abtasten der beiderseitigen Stärkeverhältnisse.

Der Zuchthausbau liegt hart an der Weser und mit der Breitseite gegen die amerikanischen Stellungen. Wir haben uns an die Wand gekauert. Die da draußen können wenigstens kämpfen. Wir müssen hier hilflos wie die Kinder sitzen und auf unser Schicksal warten." ...
Bielefeld S. 70f

 
Der nächste Tag, Freitag, der 6. April:

Weil auch das Zuchthaus mehrere Treffer erhielt und offenbar Tote und Verletzte unter den Häftlingen zu beklagen waren, verließen die Wachtmeister an diesem Tage ihren Dienst. Die deutsche Wehrmacht übernahm mit 60 Mann die Bewachung.

"Gegen Morgen flackert ein heller Schein in unsere Zelle. Die Wesermühle brennt. Unter der Zuchthausmauer steht ein deutsches Panzerabwehrgeschütz und feuert ohne Unterbrechung. Da geschieht das Furchtbare. Zwei amerikanische Granaten sausen in die Westwand des Zellenflügels im zweiten und dritten Stock. Eine Panik bricht aus. Schreie, Flüche, Weinen, Hilferufe und ein Hämmern gegen die Türen. 'Aufmachen! Aufmachen!' 'Wachtmeister aufmachen!' Ein ohrenbetäubender Lärm dröhnt durch den Bau. Wie Tiere in einem brennenden Stall sitzen wir hier gefangen.

Wo sind die Maschores? Die Herren Beamten? Die Wächter unserer Ruhe und Sicherheit? Weit und breit keiner zu sehen und zu hören. Eingesperrt haben sie uns wie die Maus in der Falle. Sitzengelassen. Selber türmen gegangen und in alle Winde zerstoben wie die Hasen.

Die Türen werden mit Fußtritten bearbeitet. Dazwischen krachen die Einschläge und die Salven der schweren MG.s. Aber Stahltüren sind fest und unnachgiebig erbarmungslos.

Da! Ein Schlüsselbund im unteren Stockwerk. Die Stimme des alten Hauptwachtmeisters. 'Los! Marsch in den Keller!' Zelle für Zelle wird aufgeschlossen. Auch aus den Sälen kommen sie angestolpert. In Holzlatschen auf Strümpfen barfuß, wie sie grad sind, jeder mit seiner Decke unterm Arm.

Der alte Hauptwachtmeister ist immer noch derselbe. Kurz angebunden, bärbeißig, grimmig. Aber in diesem Augenblick gehört er zu uns. Ist einer von uns. Wir alle spüren zum erstenmal wieder das seit Jahren unbekannte Gefühl, daß wir Menschen sind. - Wer noch kriechen kann, schleppt sich die Treppen hinunter. Aber schon sind viele hilfreiche Hände da, die Kranken, die Verletzten, die Sterbenden in das Kellergewölbe zu tragen. Der Hauptwachtmeister selber faßt mit an. Auf dem kalten Zementfußboden ist ein wenig Stroh ausgebreitet; darauf lagern wir die Kranken und die Elendesten von uns. Dann sucht sich jeder noch ein Plätzchen im Schutze einer Wand. Über uns krachen die Einschläge. Das Gebäude zittert in allen Fugen. Wir haben allen Hunger vergessen. Vierhundert Mann. Ganz Europa ist hier versammelt. Ganz Europa auf 122 qm zusammengepfercht."

"Gegen Mittag läßt die Schießerei nach und hört zeitweise ganz auf. - Was hat das zu bedeuten? Wenn der Ami das Feuer einstellt, das gibt nichts Gutes. Ist die Stadt reif zum Plattlegen? Werden jetzt die Bomber kommen?

Da bellen die Geschütze wieder auf. Entfernter klingen die Abschüsse. Die deutschen Truppen ziehen sich zurück. Der Infanterist vor unserem Kellereingang ist fort. Die Stadt wird vom Militär geräumt.

Haben sie uns nun vergessen oder liegt die Sprengladung bereits unter unserem Bau? Oder wollen sie uns einfach den Alliierten in die Hände fallen lassen?"
Bielefeld S. 73-75 (mit Auslassungen)

 
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