Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit

und in der Nachkriegszeit

 

Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit

Die letzten Monate des Zuchthauses

Der Todesmarsch vom Zuchthaus Hameln
in das Lager Holzen am 5. April 1945

 

Über den Todesmarsch liegt ein recht umfangreicher und detaillierter Bericht von D. H. Schortinghuis vor: "Het Eindspel" (Das Endspiel). Er bildet das letzte Kapitels eines Buches "Met de dood vor ogen" (Den Tod vor Augen).

Zum Aufbruch schreibt er:

 

"Schon bald heißt es 'Fertig machen'. Zuerst wird noch gegessen. Jeder bekommt zwei dünne Schnitten Brot. Zwei Schnitten Brot... es kommt die Frage auf, ob dies die Marschverpflegung ist.

Der Zug, der sich damals bildete, ist wohl der komischste gewesen, der sich jemals auf deutschen Wegen gezeigt hat. Vierhundert Knastbrüder mit ihren Decken als Cape über der Schulter. Darunter als ständiger Buckel die Essenspfanne. Das Schuhwerk variierte von hölzernen Sandalen mit Riemchen über den Füßen bis zu guten ledernen Schuhen, die auf die eine oder andere Art von den routiniertesten Kerlen organisiert worden waren.

Viele Worte für eine Nebensächlichkeit: Doch Schuhwerk ist wichtig fürs Überleben. Es lag ein langer Marsch vor uns und unter den Umständen, in denen wir uns befanden, hängt ein Menschenleben von kleinen Dingen ab.

Wir konnten das Zuchthaus nicht mehr durch das große Tor verlassen, durch das wir am 2. November hereingekommen waren, sondern wir gingen an der Rückseite entlang durch den Garten des Anstaltsdirektors Herrn Regierungsrat Stöhr.

Der Krieg war nun in Hameln angekommen. Die Schritte über die großen Steinplatten im Gärtchen des Herrn Regierungsrates waren leicht und schwebend. Wir fühlten ein Abenteuer, so dass einige von uns über die Blumen und über die Vögel, über die Luft und über den herrlichen freien Spaziergang, der auf uns wartete, und über jenen Wendepunkt in der Weltgeschichte in Hochstimmung gerieten.

Außerhalb des Gartens sahen wir dann den Krieg. Alle Häuser waren leer. Hameln war in der Nacht evakuiert worden. Hier und dort eine offene Tür. Hier und dort ein flatterndes Gardinchen. Hier und dort, aber ganz selten, ein Mensch, der zurückgeblieben war."

 

Aus den Angaben des Berichtes ist zu erschließen, dass die Marschteilnehmer überwiegend Ausländer aus verschiedenen Nationen waren. Ein größerer Teil waren Holländer, die seit einem halben Jahr im Zuchthaus Hameln zusammen sind.

Der Marsch ging durch das evakuierte Hameln (zwei flüchtende Italiener wurden hier von den Wachtmeistern erschossen) an vielen Eisenbahnlinien entlang und verließ dann die nach Braunschweig weiterführende Straße (heutige Bundesstraße 1), um nun auf Nebenstraßen durch zahlreiche Dörfer entlang des Ith südwärts nach Holzen bei Eschershausen zu führen.

"Die Hoffnung stimmte wohlgemut. Alles ging dem Ende zu. Gleichzeitig fühlten wir, dass die letzten Augenblicke auch die gefährlichsten waren. Aus welcher Ecke würde die Wut der SS oder anderer Instanzen uns noch treffen können? Es ist unwahrscheinlich, dass sie uns ungestraft über das deutsche Debakel lachend die Wege entlang laufen lassen, unserer Rettung entgegen.

So vergeht der Tag bis ungefähr um zwölf. Der Himmel bezieht sich und ein feiner Nieselregen, der einen im Handumdrehen durchnässt setzt ein. Die Wege sind so schlammig wie ein Groninger Polder. Unsere Füße werden zu bleiernen Lehmklumpen. Dunstig wird es. Die Welt, in der wir unseren trostlosen Marsch fortsetzen, wird ganz klein. Und das Schlimmste ist nun die Stille die Musik fehlt. Kein Gewehr- oder Maschinengewehrfeuer, keine Artillerie, keine Flugzeuge. Es ist gerade so, als wenn der Krieg an diesem Tage ausgesetzt hat. Und wir wissen, daß wir nichts anderes tun können als weiter zu laufen den langen Weg nach Eschershausen noch ungefähr dreißig Kilometer.

Dann beginnt das Elend. Die Schwächeren unter uns können schon nicht mehr. Das ist nicht erstaunlich. Wer die ausgezehrten eiternden und verlausten Körper der Truppe gesehen hätte, wäre verwundert gewesen, daß man damit noch fünfzehn Kilometer laufen kann. Und bei zwei dünnen Brotschnitten läuft ein gesunder Mensch schon nicht mehr weit. Man klagt oft über Schmerzen, die in den Leisten beginnen und sich dann als eine Art Lähmung in den Beinen fortsetzen. Die Menschen, die hiermit kämpfen, halten nicht mehr Schritt und drohen zurückzubleiben. Die Kameraden nehmen sie so gut wie möglich zwischen sich, und so geht es wieder etwas weiter.

Der Zustand wird unhaltbar. Es wird zwar von Dorf zu Dorf eine Bauernkarre genommen, die die Schwächsten mitnehmen kann, aber es sind zu viele hierfür, und gerade die bescheidenen Naturen werden ihrem Schicksal überlassen."

"Ein Wachtmeister, der den Schluss der Kolonne bildet, sorgt dafür dass es keine Nachzügler gibt! Mit Gewehrkolbenschlägen werden die Schwachen weitergetrieben. Dabei wird versichert, dass derjenige der zurückbleibt, totgeschossen wird."

Dies ist nicht nur eine Drohung. Es lagen in der Tat Leichen entlang der Straße teils unverletzt, teils mit Kugeleinschüssen. Alte Männer, die ihrer Müdigkeit erlegen, und Nachzügler, denen das Glück nicht vergönnt war, in die Hände des Feindes zu fallen.

"In einem Dorf scheint es einen Augenblick lang gefährlich zu werden. Ich höre von jemandem, daß die SS den Wachtmeistern den Befehl gegeben hat, alles niederzuschieße, wenn ein Weiterkommen nicht mehr möglich ist. Es muss nicht ein direkt ausgesprochener Befehl gewesen sein, sondern eine nur mehr oder weniger lose Bemerkung. In jedem Falle ist mein Gewährsmann verzweifelt."

 

Die Wachmannschaften schritten offenbar nicht ein, wenn die ausgehungerten Häftlinge einen Kartoffeldämpfer oder eine Rübenmiete plünderten oder von einzelnen Dorfbewohnern Wasser oder Brot oder Kartoffeln erhielten. Immer wieder aber wurden die Gefangenen von Überzeugten oder Ängstlichen vom Grundstück gejagt, schlossen sich Türen und Fenster vor den Bittenden.

"Als wir durch ein Dorf hindurch zogen, ging plötzlich ein Fenster auf und mir wurden drei Pellkartoffeln in die Hand gedrückt. Etwas weiter waren drei junge Frauen damit beschäftigt, alle Milch, die sie hatten, unter dem Motto abzugeben: Sonst trinken die Amerikaner doch alles aus!"

 

Am frühen Nachmittag war die Kolonne so weit auseinander gezogen, dass ihr Ende bereits ohne Bewachung ist. Einige Männer versuchten in Dörfern und leer stehenden Scheunen unterzutauchen. Der Marsch ging in die Nacht hinein.

"Und so gehen wir weiter Kilometer für Kilometer. Und doch geht es. Durch den Regen ist die Landschaft die Trübste aller Landschaften. Die Dunkelheit bricht ein. Auch wir werden stiller und sehen zu, daß wir vorwärts kommen. Wir kommen durch Dörfer, als es schon völlig dunkel ist. Weiße Giebel an den Straßenrändern und Ansammlungen von redenden Menschen.

Wir gehen über eine Brücke über einen plätschernden Bergbach. Wir stolpern in der Dunkelheit vorwärts, unbekannte Wege entlang zu einem unbekannten Ziel. Und dann in der Dunkelheit träumende Gedanken: Hier marschiert ein gequältes und heimgesuchtes Europa. Wir hören unsere Schicksalsgenossen um uns herum reden. Niederländer, Belgier, Luxemburger, Franzosen, Deutsche, Tschechen, Italiener, Serben, Polen, Russen, Litauer und Norweger. Vierhundert Mann zwölf Nationen. Sonst wird gewöhnlich von jedem so ein bisschen Deutsch gesprochen, aber nun in der Dunkelheit sucht jeder sein Volk und die eigene Sprache wird gebraucht. In der Nacht leben die Nationen auf und wir wissen es: Der Krieg ist so weit fortgeschritten, daß dieses Aufleben nicht mehr absterben wird.

Wir passieren ein unleserliches Ortsschild. Noch acht Kilometer sagen Kenner. Wir kommen durch Holzen. Nun noch fünf. Es geht bergauf. Der Regen fällt noch immer und die Bäume tropfen. Vor uns stolpern dunkle Rücken. Der Haufen murmelt. Unten in einem Tal Lichtzeichen und Rufen Kriegshandlungen? Dieser Tag wird uns nicht mehr die Freiheit bringen. Wenn er uns nur zum Endziel bringt, das Lager 'Hecht' mit einem Dach über dem Kopf, dann ist es auch schon mehr als gut."

"Das Lager... Am Eingang brennt ein kleines Licht. Bei dem schwachen Schein sehe ich links und rechts Wachtmeister und Stacheldraht. Wir gehen hinein. Baracke IIIB wird dort gerufen. Noch einmal eine Abquälerei durch einen Schlammbrei, wie es ihn nirgendwo anders gibt, dann sind wir zu Hause. Das Ziel ist erreicht. Wieder einen Tag näher an der Befreiung.

Etliche von uns werden sie nicht mehr erleben. Den Hafen vor Augen sahen sie das Tageslicht zum letzten Mal. Sie ruhen nun an den Rändern der Wege, auf denen wir unsere 45 Kilometer liefen. Leichen unversehrt und solche mit Kugeleinschüssen. ...

In der Baracke sieht es gut aus. Da sind Gestelle mit Strohsäcken und außerdem brennt dort laut ein Ofen. Erst einmal Decken und Kleider trocknen und dann ins Bett. Über das, was später kommt, kann man sich später Gedanken machen."

 

Die erschöpften Männer verbrachten den folgenden Tag im Lager Holzen.

"Das Lager bietet im Tageslicht einen jämmerlichen Anblick. Niedrige graue Baracken dazwischen ein Platz. So schlammig, daß man sich fragt, wie es in der Welt nur so schäbig sein kann. Und es regnet immer weiter. ... Der Tag vergeht und es wird Abend. Wieder ein Tag Gewinn."

 

Immer noch war die Angst groß, dass die SS die Männer erschießen könnte. Der nächste Tag brachte dann endlich die Befreiung durch die Amerikaner.

"7. April der große Tag der Tag der Befreiung. Der Tag, dem wir uns fünf Jahre hintereinander jeden Tag um einen Tag näherten."

"Dann gegen drei Uhr wird plötzlich laut in die Baracke hineingeschrien: 'Le drapeau blanc le drapeau blanc' - die weiße Fahne. Ich schieße aus meinem Bett heraus. Draußen steht eine Menge, gestikuliert und redet wild durcheinander in allen Sprachen Europas - eine babylonische Sprachenverwirrung!

Und ja - da hängt es... Oben am Flaggenmast ein Bettlaken. Es flattert im Wind, ab und zu knallt es kurz. ... So ein dummes, ganz normales und ganz weißes Bettlaken. Oben, ganz hoch an der Spitze des Flaggenmastes - und da sind mächtige Flecken aus reinem Blau am Himmel inmitten von glänzenden Wolken - flattert es und spricht seine Sprache.

Wir rennen zum Tor, das wer weiß wie lange schon lang und breit offensteht. Sie stehen auf dem Betonweg vor der Verwaltungsbaracke. Dies sind nun die Amerikaner. USA. Jeeps große und kleine Gefechtswagen Lastautos und darin die Kerle, die besten der ganzen Welt, unsere Befreier, lachend und geschoren und Kaugummi kauend und mit Zigaretten zwischen den Fingern und in ganz einfachen Uniformen."

 

Es war das 329. Regiment der 83. US-Division "Thunderbolt", das am 7. April die zahlreichen Lager am Hils und damit auch das Außenlager des Zuchthauses befreite.

Zeitzeugenberichte und Akten bestätigen den Bericht von Schortinghuis bis in die Einzelheiten hinein. Es ist auch heute über 50 Jahre nach dem Geschehen immer noch möglich, in den genannten Dörfern Zeugen für den Marsch zu finden.

So hat eine Frau aus Harderode drei Ausländer mit etwas Brot versorgt. Die Männer, die unter ihren Decken hervorschauten und die sie neben ihrem Haus niedergehockt vorfand, seien schrecklich schwach gewesen. Sie berichtet von ihrer Sorge, ob die ausgehungerten Mägen das Brot wohl vertragen könnten. Das fremd klingende "Danke" hat sie bis heue im Ohr, viel mehr aber noch das schreckliche Schlurfen der müden Füße über die Straße.

 

Mehrere Tote sind am Rande des Weges bezeugt. Wie viele Todesopfer dieser Marsch unter den völlig erschöpften Häftlingen forderte, wird sich nicht mehr aufklären lassen.

 

Quellen

Übersetzung des Berichts von Schortinghuis durch August Meyer, Thijs van der Molen und Wiebke Mönnich

Ludwig Brockmann, Marsch der Strafgefangenen aus dem Zuchthaus Hameln in das Lager Holzen, D. Creydt und A. Meyer, Zwangsarbeit Band 2, Braunschweig 1994, S. 231-235

 
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