Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit

und in der Nachkriegszeit

 

Das Zuchthaus Hameln in der Nachkriegszeit

Das Zuchthaus als Hinrichtungsort der Briten

 

Der Umgang mit den NS-Verbrechen: Die Prozesse der Alliierten

 

  Die Rechtsgrundlagen
  Die Prozesse wegen der Gewaltverbrechen in Bergen-Belsen

 

Die Prozesse wegen der Gewaltverbrechen in Bergen-Belsen

 

  Das KZ Bergen-Belsen
  Das Verhalten der Angeklagten: Verbrechen als "Pflichterfüllung"
  Exkurs: Irma Grese
  Die Wirkung des Prozesses
  "Siegerjustiz"? - die Beurteilung der Prozesse der Alliierten
  Der Komplex Bergen-Belsen vor den deutschen Gerichten

 

Als ein Beispiel der britischen Prozesse soll der Bergen-Belsen-Prozess vorgestellt werden.

 

Das KZ Bergen-Belsen

 

Das KZ Bergen-Belsen war in den letzten Monaten des Krieges Auffanglager für die Häftlinge der Todesmärsche und Transporte aus den östlichen Lagern; Anne Frank ist hier im Januar 1945 gestorben.

Am 15. April, dem Tag der Befreiung, betrug die Lagerstärke über 60.000 Menschen. Das KZ-Gelände war selbst nur für 8.000 Menschen konzipiert. In den letzten 4 Monaten kamen rund 35.000 Menschen ums Leben. Seit Ende März ließ man die unzähligen Toten einfach liegen. Noch nach der Befreiung Anfang April starben 14.000 Menschen an Seuchen und Entkräftung.

Die Bilder der Leichenberge, die britische Kameraleute damals aufnahmen, gingen um die Welt und lösten ein tiefes Erschrecken aus. Bis heute werden sie mit dem KZ-System assoziiert.

 
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Die Briten standen unter starkem Druck der Weltöffentlichkeit. Der Ruf nach einer schnellen Bestrafung der Täter war weltweit. Man wollte außerdem die Wirkung der apokalyptischen Bilder auf die deutsche Bevölkerung nicht verpuffen lassen. Der Prozess sollte einen moralischen Läuterungsprozess bewirken.

Insgesamt 450 SS-Angehörige waren in Bergen-Belsen tätig gewesen. Als die Briten das Lager übernahmen, befanden sich dort nur 56 SS-Angehörige. Ein großer Teil der Wachmannschaft war verschwunden, zahlreiche weitere an Typhus erkrankt.

Man hatte auf britischer Seite versäumt, rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen, nach den Verantwortlichen zu fahnden. Schließlich wurden nur 45 Männer und Frauen angeklagt, jene, die zum Zeitpunkt der Befreiung noch im Lager waren. Unter ihnen waren nur vier, die maßgebliche Funktionen im KZ bekleidet hatten. Die meisten anderen waren erst zwischen Januar und April 1945 mit den Evakuierungsmärschen nach Bergen-Belsen gekommen.

Für die Strafverfolgung bedeutete dies, dass ein großer Teil der Täter für die Ermittlung und Strafverfolgung ausfiel.

Trotz des großen Zeitdrucks machte die britische Militärjustiz große Anstrengungen bei der Durchführung der Ermittlungen und Verhandlungen. Der erste Belsen-Prozess begann im September 1945 und endete nach 45 Verhandlungstagen im November 1945 in Lüneburg.

Die Schwierigkeiten auf Seiten der Anklage bestanden darin, dass die ehemaligen Häftlinge als Zeugen zwar Aussagen über viele Verbrechen machten, häufig aber nicht sagen konnten, wer sie begangen hatte. Das SS-Personal wechselte häufig, Namen waren nur sehr selten bekannt.

Das festgenommene SS-Personal wurde deshalb von den Briten fotografiert und die Fotos den Zeugen vorgelegt. Dadurch wurden besonders jene belastet, von denen Fotos vorlagen. Dieses Verfahren war für die Verteidigung ein willkommener Angriffspunkt.

 
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Das Verhalten der Angeklagten: Verbrechen als "Pflichterfüllung"

 

Eine Mischung aus aggressivem Trotz und resignativem Selbstmitleid kennzeichnete das Verhalten der Angeklagten im Prozess, versteckt hinter Schlagwörtern wie Treue, Stolz, Ordnung oder gar – in perverser Verdrehung der Umstände – "Opferbereitschaft".

Irma Grese:

"Doch man wird auch nicht den Triumph haben, dass ich mich auch nur einen Finger breit erniedrige. ... Denn ich erfüllte für mein Vaterland meine Pflicht!"
(Wenck, ebd.)

Das Zitat ist typisch für das Selbstbild der meisten NS-Täter. Es zeigt die Abwehr jeder persönlichen Schuld. Pflicht oder Gehorsam waren die Motive des Handelns.

Die Qualen der Ermordeten wie auch die seelischen und körperlichen Verletzungen der Überlebenden wurden von den Angeklagten und ihrer Verteidigung nicht gesehen. Niemand von den Angeklagten trat auf und sagte:

Herr Zeuge, Frau Zeuge, was damals geschehen ist, war furchtbar und tut mir schrecklich leid.

Die Welt hätte aufgeatmet; aber solche Worte sind nicht gefallen.

 
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Exkurs: Irma Grese

 

Geboren am 7. Oktober 1923 in Wrechen im südöstlichen Mecklenburg in einer rein ländlichen Gegend. Sie lebte mit ihrem Vater, einem Melker, ihrer Mutter und vier Geschwistern auf einem Gutshof. 1936 beging die Mutter angeblich aufgrund ehelicher Probleme Selbstmord.

1938 im Alter von 14 Jahren verließ sie die Volksschule und absolvierte ein "Landjahr". Mit 15 Jahren begann sie für 2 Jahre als Hilfsschwester im SS-Sanatorium Hohenlychen zu arbeiten. Sie bemühte sich um eine Ausbildung als Krankenschwester, fand aber keine Lehrstelle. Auch eine zweite Bewerbung war vergeblich.

Darauf meldete sie sich zur SS und wurde im KZ Ravensbrück als Aufseherin ausgebildet. Damals war sie 18 Jahre alt. Im Mai 1943 wurde sie nach Auschwitz-Birkenau versetzt. Dort war sie zeitweise im Frauenlager eingesetzt, später beaufsichtigte sie zwei Blöcke im Männerlager und machte eine steile Karriere.

Am 18. Januar 1945, als das Lager Auschwitz evakuiert wurde, begleitete sie einen Häftlingstransport nach Ravensbrück. Als Anfang März auch Ravensbrück evakuiert wurde, begleitete sie einen Frauentransport nach Bergen-Belsen. Dort wurde sie von den Briten verhaftet.

 
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Der Anklagevertreter Colonel Backhouse schilderte Irma Grese folgendermaßen:

"Nr. 9, Grese, war Aufseherin verschiedener Arbeitskommandos und zeitweilig Aufseherin des Frauenstraflagers in Auschwitz. Sie wurde als die schlimmste Frau des ganzen Lagers beschrieben. Es gab keine Grausamkeit im ganzen Lager, mit der sie nicht in Verbindung gebracht wurde. Sie hat regelmäßig an Selektionen für die Gaskammer teilgenommen, folterte nach eigenem Belieben und Ermessen. In Belsen setzte sie dieses grausame Verhalten genauso fort. Ihre Spezialität war es, abgerichtete Hunde auf wehrlose Menschen zu hetzen."

Die Zeugenaussagen brachten viele belastende Aussagen und sehr detaillierte Angaben über Brutalitäten. Irma Grese war vielen ehemaligen Gefangenen bekannt. Sie hatte zugegeben, Häftlinge zu langem Appellstehen gezwungen und Gefangene mit der Hand oder mit einer Reitpeitsche geschlagen zu haben.

Als ihr Fall verhandelt wurde, kam sie mit einer neuen Frisur und modisch gekleidet. Im Kreuzverhör antwortet sie sehr selbstbewusst. Auf Vorhalt, sie sei die schlimmste Aufseherin im Lager gewesen, sagte sie:

"Sie lügen alle. Die Leute übertreiben und machen aus einer kleinen Fliege einen Elefanten."

Ihre Aussagen sind Ausdruck einer emotionalen Verkümmerung und offenbaren ein erschreckend schlichtes, auf Befehl und Gehorsam reduziertes Selbstverständnis, wonach Gewalt grundsätzlich nur die Reaktion auf "Fehlverhalten" der Häftlinge gewesen sei.

Irma Greses Verhalten im Prozess war typisch für die Täter auf der unteren Ebene der SS-Hierarchie. Da handelte es sich häufig um "Verbrecher mit gutem Gewissen", die eine persönliche Schuld mit Hinweis auf Pflicht und Gehorsam abwehrten.

 
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Am 17. Nov. 1945 wurden die Urteile verkündet. Von 45 Angeklagten wurden elf zum Tod durch den Strang verurteilt, darunter Irma Grese und der Kommandant Josef Kramer, 14 wurden freigesprochen, die übrigen erhielten Haftstrafen, die auf Grund von Begnadigungen oder guter Führung später gekürzt wurden.

Die Verurteilten wurden anschließend nach Hameln verlegt. Ihre stolze Haltung hielt Irma bis zur Hinrichtung durch. Als Kramer wenige Tage vor der Hinrichtung weich wurde, soll sie ihn angeschrien haben:

"Nimm das nicht so ernst, du weißt doch auch, dass die Zeit kommen wird, an dem es einen Kramer-Platz und eine Irma-Grese-Straße geben wird."

 
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In der Nacht vor dem Tod soll sie Nazi-Lieder gesungen haben und stolz und ungerührt zum Galgen gegangen sein. Sie kultiviert einen pathetischen Gestus, indem sie sich als Opfer der alliierten Siegerjustiz sieht und sich in die Rolle eines Märtyrers träumt.

Die Person Greses spielte in der Berichterstattung der Presse eine besondere Rolle. Die junge Frau, die sich freiwillig zum Dienst als Aufseherin gemeldet hatte, im Gerichtssaal ihre Straftaten bis zu einer gewissen Grenze bewusst gestand, zuweilen gegenüber dem Gericht ausfallend wurde und dazu noch ein "arisches" Aussehen hatte (als Pin up girl hing ihr Foto im Spind so manches britischen Soldaten), entsprach ganz offenbar dem Prototyp einer fanatischen Nationalsozialistin: kühl und Verachtung ausstrahlend.

 
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Für Teile der Presse wurde Irma Grese zur Personifikation des Sadistisch-Bösen schlechthin. Statt dass man nach sozialen oder psychologischen Erklärungen für ihren Werdegang und ihr Verhalten gefragt hätte, galt sie als "Die Bestie von Auschwitz" oder die "Hyäne von Bergen-Belsen". Ihr Verhalten war mit dem traditionellen Frauenbild nicht in Einklang zu bringen, das Weiblichkeit und Schönheit mit Sanftmut und Reinheit gleichsetzte.

Erich Frieds heute kaum mehr bekannter Roman "Ein Soldat und das Mädchen" (1960) ist aus dem Erleben des Belsen-Prozesses geschrieben. Hier tritt das Verbrechen zurück hinter eine Auseinandersetzung mit Fragen nach der Schuld. Fried kritisiert, dass die junge und schöne Angeklagte als Projektionsfläche für das Böse in weiblicher Gestalt missbraucht wird. Er setzt sich differenziert und kritisch mit der Todesstrafe auseinander sowie mit dem billigen und leichtfertigen Hass, der einer Frau wie Irma Grese entgegen schlägt. Das bringt ihm damals gnadenlose Kritiken ein.

Bei der "sex and crime" Geschichte "Der Vorleser" (1995) von Bernhard Schlink steht möglicherweise auch Irma Grese im Hintergrund. Hier spielt die Sexualität der Aufseherin eine enorme Rolle. Die Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verbrechen und die Frage nach den Handlungsspielräumen einer Aufseherin tritt hinter ganz andere Fragen zurück. Ich habe nie verstanden, warum das Buch zur Standardlektüre in Schulen wurde.

 
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Die Wirkung des Prozesses

 

Der Belsen-Prozess war der erste Prozess wegen KZ-Verbrechen überhaupt und entsprechend groß war das Interesse der internationalen Presse. Die Weltöffentlichkeit erfuhr zum ersten Mal etwas von der Systematik und dem Ausmaß des NS-Vernichtungssystems.

Von breiten Teilen der Öffentlichkeit, besonders von Franzosen und Sowjets, wurden die Urteile als zu milde kritisiert. Die größte Enttäuschung gab es bei den überlebenden Opfern, die als Zeugen ausgesagt hatten. Sie hatten erleben müssen, wie die Verteidigung sie unbarmherzig ins Kreuzverhör nahm und viele ihrer Aussagen bezweifelte und lächerlich machte.

Die Wirkung auf die deutsche Bevölkerung war gering. Die Briten hatten in Lüneburg 400 Plätze auf einer Zuschauergalerie eingerichtet, die jedoch nur spärlich gefüllt waren. Der Prozess fiel in eine Zeit, als der Mangel an allem die Menschen apathisch gemacht hatte. Die Hoffnung der Briten auf einen Selbstreinigungseffekt in der Tätergesellschaft sollte trügen.

 
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"Siegerjustiz"? - die Beurteilung der Prozesse der Alliierten

 

Man mag die drei Belsen-Trials der Briten wegen unterschiedlicher Mängel kritisieren. Für ihre Würdigung ist wichtig zu wissen, dass es die einzigen Verfahren der Nachkriegszeit sind, in denen konkret gegen einen Teil der Täter von Bergen-Belsen ermittelt wurde.

Es besteht kein Zweifel, dass die Angeklagten misshandelt und getötet haben. Auch jene, die wie Irma Grese, nur eine untergeordnete Rolle in der SS-Hierarchie hatten, können sich nicht auf eine "Mittäterschaft" oder gar "Opferrolle" hinausreden. Die Aufseherinnen übten direkte Herrschaft über die Häftlinge aus und prägten den Ablauf des Lageralltags.

Nur diesen Prozessen verdanken wir, dass es heute noch Aussagen der Überlebenden und des Wachpersonals gibt, die als Quellen für Zeithistoriker dienen können. Die SS hatte alle sie belastenden Dokumente kurz vor der Befreiung der Lager vernichtet.

Die Prozesse setzten ein Zeichen, dass Verbrechen nicht ungestraft bleiben. Die Hoffnung der Opfer des Terrors, den größten Teil der Täter zu bestrafen, wurde allerdings enttäuscht.

Handelt es sich bei den Prozessen um Siegerjustiz? Dieser Vorwurf ist leicht zu erheben. Er trifft im Grunde jeden politischen Prozess. In allen politischen Prozessen, die vor Gerichten eines siegreichen neuen Regimes stattfinden, sind die Richter in gewissem Sinne Siegerrichter. Auch in Den Haag sitzen heute die Sieger zu Gericht über die Angeklagten, und trotzdem erwarten wir ein gerechtes Urteil.

 
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Der Komplex Bergen-Belsen vor den deutschen Gerichten

 

Seit 1950 waren deutsche Gerichte für die Untersuchung und Aburteilung der NS-Verbrechen verantwortlich. Sie haben Bergen-Belsen nie zum Gegenstand einer Hauptverhandlung gemacht. Es gab nie ein dem Frankfurter Auschwitzprozess vergleichbares Verfahren. Die Hauptverantwortlichen des Lagers konnten sich der bundesdeutschen Justiz alle entziehen.

Zahlreiche Möglichkeiten, die es gegeben hat, der Täter habhaft zu werden, wurden nicht genutzt. Ein markantes Beispiel für ein bundesdeutsches Verfahren ist das Urteil des Schwurgerichts Paderborn aus dem Jahre 1970 gegen den SS-Unterscharführer Josef Friedsam:

Friedsam war vor seiner Tätigkeit in Bergen-Belsen im KZ Wewelsburg tätig gewesen, hatte dort u. a. von 7 Meter Höhe Felsbrocken auf Häftlinge geworden, sie im Winter bis zu ihrem Tod mit eiskaltem Wasser abgeduscht und mit so genanntem Sporttreiben gequält, ...

Zitat:

"... vermochte das Schwurgericht ferner auch nicht festzustellen, dass die Angeklagten und ... F. ... die Absicht verfolgt haben, die betreffenden Häftlinge zu töten, oder ihren Tod dabei doch zumindest billigend in Kauf genommen zu haben. ... Nach alledem waren die Angeklagten ... und F. im vorliegenden Fall freizusprechen." ...

"Soweit das Verhalten des Angeklagten F. als gefährliche Körperverletzung zu werten ist, kann eine Verurteilung nicht erfolgen, weil insoweit inzwischen Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist."

Die spätere Tätigkeit von F. in Bergen-Belsen war im Lebenslauf erwähnt, wurde aber nicht zur Anklage herangezogen.

 
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