Zur Geschichte der Juden in Hameln

und in der Umgebung

 

Die jüdische Gemeinde Polle

 

Aus der Geschichte des Ortes
Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde im 18. und 19. Jahrhundert
Die Geschichte der Juden von Polle im 20. Jahrhundert
Die Namen der Opfer
Politische und religiöse Zugehörigkeit der Gemeinde
Gesamteinwohnerzahl / darunter Juden
Quellen und Literatur

 

Aus der Geschichte des Ortes

Polle wird erstmals 1285 erwähnt, als die Grafen von Everstein dort eine Burg errichteten. Das unter dem Burgberg entstandene Polle erlangte im 14. Jh. Fleckenprivilegien. Ab 1504 war der kleine Ort Sitz eines Amtes, das 1850 14 Ortschaften mit nicht einmal 4.500 Einwohnern inmitten braunschweigischer und lippischer Gebiete verwaltete. Der Ort lebte, abgesehen von der Landwirtschaft und etwas ländlichem Gewerbe, vom Weserzoll, der dort bis 1815 erhoben wurde, und von der Weserfähre. Polle lag abseits wichtiger Straßen und konnte sich wirtschaftlich kaum entwickeln. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung ein.

 
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Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde im 18. und 19. Jahrhundert

Abgesehen von der kurzfristigen Anwesenheit des bedeutenden Kaufmanns Israel Schay im Jahr 1583 sind Juden in Polle erst für 1686/1689 nachweisbar. Isaac Levi und Sußmann Moses besaßen damals Schutzbriefe auf Polle. Beide waren verheiratet und hatten Kinder. Isaac Levis Witwe Judith heiratete später Matthias und war auch noch 1702 in Polle ansässig. Sußmann Moses war zu diesem Zeitpunkt bereits nach Bodenwerder verzogen. Für das 18. Jahrhundert gibt es nur einen Nachweis: Itzig hatte 1758 keinen Beitrag zum Landrabbinergehalt gezahlt. 1809 lebten mehrere Schutzjuden in Polle; namentlich erwähnt werden der Schächter Abraham sowie Samuel und Coppel Manheimer.

1825 bestand die jüdische Gemeinde aus sechs Haushalten. In diesem Jahr wählten die Poller Juden den am längsten dort ansässigen Abraham Nachmann zu ihrem Vorsteher. Als Schächter fungierte der Handelsmann Moses Wolf, der später den Namen Rosenstern annahm.

Bei der Festsetzung der Synagogenbezirke wurde 1843 Polle mit Bodenwerder zusammengelegt und Polle zum Ort des Gottesdienstes bestimmt. Faktisch fand aber kein Zusammenschluss statt, denn die Juden im 14 km entfernten Bodenwerder beharrten auf ihrem eigenen Gottesdienst. Die nie zustande gekommene Vereinigung der beiden Gemeinden wurde 1889 amtlich aufgehoben.

Polle - Synagoge
Synagoge Polle, Burgstraße 12

In Polle wurde der Gottesdienst vermutlich im Obergeschoss des hinteren Teiles des Hauses Burgstraße 12 abgehalten. Das Gebäude war in christlichem Besitz, aber zwei große Räume, von denen der eine als Tempel diente, waren an die jüdische Gemeinde vermietet. 1868 wurden 13 T. Synagogenmiete gezahlt; daneben verzeichnet der Gemeindehaushalt noch Kosten für die Restauration der Thora, die Synagogeneinrichtung und die Anschaffung von Instrumenten zur Ausübung des Gottesdienstes. 1867/68 wurde der Friedhof, weit oberhalb des Dorfes gelegen, eingefriedet. Eine Mikwe war nicht vorhanden. Als Gemeindevorsteher amtierten im 19. Jh. vorwiegend Angehörige der Familien Nachmann und Hodenberg.

Jüdischer Religionsunterricht fand in Polle selten statt. 1838 wurde zwar in Anwesenheit des Landrabbiners eine Regelung für den Reihetisch des Lehrers beschlossen, die Anwesenheit von Lehrern ist aber bisher nur für 1844 (wahrscheinlich Joseph Nachmann, der zwei Jahre später in Münder unterrichtete) nachgewiesen. Die Zahl der schulpflichtigen Kinder war gering: 1846/47 und auch 1860 gab es nur vier bzw. fünf, die in der christlichen Schule unterrichtet wurden. Erst 1868 veranlasste der Landrabbiner die Ausschreibung einer Lehrer-, Vorsänger- und Schächterstelle, obwohl zu diesem Zeitpunkt nur in der Familie Nachmann schulpflichtige Kinder waren. Trotz einer 1869 aus dem Provinzialfonds bewilligten Beihilfe fand sich kein Interessent. 1889 suchte Bernhard Hodenberg privat eine Erzieherin für seine Kinder.

1847 bestand die jüdische Gemeinde Polle aus vier Haushalten mit zusammen 29 Personen. Itzig Rosenstern arbeitete als Rosshändler, Heinemann Lehmann als Schlachter; beide besaßen ein Haus. Joseph Nachmann war Manufakturwaren- und Hokenhändler. Die Familie des Meier Abraham Nachmann hatte kein Vermögen. Die Gemeinde war vergleichsweise arm, nur Rosensterns Einkommen ragte etwas heraus. Die Familie Lehmann verließ Polle um 1854, die Familie Rosenstern zog 1872 nach Hemmendorf. In den 1870er Jahren stieg die Zahl der Steuerpflichtigen auf bis zu 15 an, von denen aber mehrere mittellos waren. 1873 gab es fünf jüdische Haushalte im eigenen Haus. Als wohlhabend galten der Schlachter und Viehhändler Joseph Hodenberg und seine Söhne. Hodenberg verließ Polle vor 1900; einer seiner Söhne verlegte sein Manufakturwarengeschäft nach Holzminden. Julius Nachmann ging einige Jahre später ebenfalls nach Holzminden.

 
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Die Geschichte der Juden von Polle im 20. Jahrhundert

1909 lebten noch 15 Juden in Polle. Ab 1912 wird nur noch die Familie Nachmann genannt. Die Gemeinde war erloschen. In ihrem Haus in der Burgstraße 27 betrieben Nachmanns die "Manufaktur- und Modewarenhandlung Nachmann Meier Nachmann", die schon in den 1860er Jahren als Manufaktur- und Kolonialwarenhandlung bestanden hatte. Das gut gehende Kleidergeschäft hatte einen Einzugsbereich bis Rühle, Pegestorf und Ottenstein. Der im Dorf angesehene Max Nachmann zog mit seinem Musterkoffer über die Dörfer und betätigte sich hin und wieder als Heiratsvermittler. Sohn Robert war Mitglied im Verein "Frohsinn".

Bereits 1922 nahm Nachmann seinen Angestellten Wilhelm Klages als Teilhaber auf. Nach 1933 bat er ihn, in die NSDAP einzutreten, um Boykottmaßnahmen gegen das Geschäft vorzubeugen. Auf Bitten Nachmanns wurde Klages am 4. Juli 1935 Alleininhaber. Nachmann, der weiter im Laden verkaufte, wohnte zusammen mit seiner Frau in der Wohnung über dem Geschäft und wurde von Klages, der mehrfach als "Judenfreund" angegriffen wurde, offenbar auch finanziell unterstützt.

Am 9. November 1938 versammelten sich Poller Bürger vor dem Haus Burgstraße 27 und zertrümmerten mit Steinen die Fensterscheiben der Wohnung und verwüsteten sie. Der Händler Karl Levy, der sich damals in Polle aufhielt, wurde verhaftet und in das hannoversche Polizeigefängnis gebracht.

Max Nachmann verstarb 1940im israelitischen Krankenhaus in Hannover und wurde auf dem jüdischen Friedhof Hannover-Bothfeld beerdigt, ohne einen Stein zu erhalten. Sohn Robert, der zuletzt in Oerlinghausen bei Bielefeld gelebt hatte, gelang mit seinem Sohn die Flucht über Shanghai in die USA.

Die Witwe Minna Nachmann und ihr aus Dassel nach Polle gezogener Bruder Julius Rothenberg wurden am 24. Juli 1942 über die Sammelstelle in Hannover-Ahlem nach Theresienstadt deportiert, wo beide noch im selben Jahr ums Leben kamen. Möbel, Bilder und Hausrat wurden später auf der Marktstraße öffentlich verkauft. Weitere ehemalige Bürger Polles wurden aus anderen Orten des Reiches deportiert und ermordet.

Der jüdische Friedhof in Polle ('Der Weserberg', 350 qm Fläche) wurde während des November-Pogroms 1938 von der örtlichen SA zerstört und die Grabsteine abtransportiert. Auf dem eingezäunten Gelände befindet sich ein Gedenkstein, den der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen gesetzt hat. Das Grundstück befindet sich im Besitz der Gemeinde, die seit 1988 auch die Pflege übernommen hat.

 
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Die Namen der Opfer

 

Julius Nachmann

wurde am 2. Juni 1877 in Polle geboren. Seit 1913 wohnte er in Holzminden.
Mit Ehefrau Helene und Tochter Lore wurde er im Alter von 64 Jahren am 22. November 1941 von Frankfurt in das Ghetto Riga deportiert. Julius Nachmann ist in Riga verschollen und wurde auf das Datum 31. Dezember 1945 für tot erklärt.

 

Max Nachmann

wurde am 23. Februar 1897 als Sohn von Max und Minna Nachmann in Polle geboren. Er lebte in Berlin-Schöneberg und war mit Else, geb. Moses, verheiratet. Über das Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris wurde er am 17. August 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ist dort verschollen.

 

Minna Nachmann

wurde als Minna Rothenberg am 12. Oktober 1862 in Dassel geboren. Ihr Ehemann Max starb am 21. April 1940 im israelitischen Krankenhaus in Hannover.
Aus Polle wurde sie zusammen mit ihrem Bruder Julius Rothenberg nach Hannover-Ahlem verschleppt und von dort am 24. Juli 1942 in das Altersghetto Theresienstadt deportiert. Wenige Tage nach der Deportation starb sie am 3. August 1942 in Theresienstadt. Sie war zum Zeitpunkt ihres Todes 79 Jahre alt.

 

Emil Rosenstern

wurde am 7. April 1867 in Polle geboren.
Er lebte in Elze und seit dem 30. Juni 1938 in Hannover. Seit dem Jahre 1941 musste er im 2Judenhaus" Ohestraße 9 und schließlich ab 13. Februar 1942 in Hannover-Ahlem wohnen.
Am 24. Juli 1942 wurde Emil Rosenstern aus Hannover-Ahlem in das Altersghetto Theresienstadt deportiert. Am 29. September 1942 wurde er im Alter von 75 Jahren aus Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt und ist dort verschollen.

 

Julius Rothenberg

wurde am 16. Juli 1868 in Dassel geboren. Er wohnte zuletzt bei seiner Schwester Minna Nachmann in Polle.
Aus Polle wurde er zusammen mit seiner Schwester Minna Nachmann nach Hannover-Ahlem deportiert und von dort am 24. Juli 1942 in das Altersghetto Theresienstadt verschleppt. Dort wohnte er im Haus L 421. Julius Rothenberg starb am 25. Dezember 1942 im Alter von 74 Jahren in Theresienstadt.

 

Marta Schloss

wurde als Marta Hodenberg am 16. Dezember 1881 in Polle geboren. Sie wohnte zuletzt in Frankfurt, Rankestraße 23.
Aus Frankfurt wurde sie im Jahre 1941 in das Ghetto Minsk deportiert und ist dort verschollen.

 
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Politische und religiöse Zugehörigkeit der Gemeinde

Fürstentum Calenberg bis 1692, Kurfürstentum Hannover 1692-1810, Königreich Westfalen 1810-1813, Königreich Hannover 1815-1866, preußische Provinz Hannover 1866-1945; Landdrostei Hannover 1823-1885, Regierungsbezirk Hannover 1885-1945; Amt Polle bis 1885, Kreis Hameln 1885-1922, Kreis Hameln-Pyrmont 1922-1945; heute: Regierungsbezirk Hannover, Landkreis Holzminden.

Synagogengemeinde im Landrabbinat Hannover.

 
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Gesamteinwohnerzahl / darunter Juden

1848: 1.219 / 29, 1864: 1.190 / 21, 1885: 1.151 / 18, 1905: 1.037 / 9, 1925: 1.063 / 2

 

 
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Quellen und Literatur

Der Landkreis Hameln-Pyrmont. Kreisbeschreibung und Raumordnungsplan nebst Statistischem Anhang, Bremen-Horn 1952 (Die deutschen Landkreise, Reihe D, Bd. 7)

Gelderblom, Bernhard: Jüdisches Leben im mittleren Weserraum zwischen Hehlen und Polle. Von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zu seiner Vernichtung in der nationalsozialistischen Zeit. Ein Gedenkbuch, Holzminden 2003

Prigge, Hans: Chronik des Fleckens Polle, Polle o. J.

AZJ 27.2.1866, 14.2.1889

Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover
Staatsarchiv Wolfenbüttel
Kreisarchiv Hameln-Pyrmont
Zeitzeugen

 
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