Zur Geschichte der Juden in Hameln

und in der Umgebung

 

Der Kibbuz Cheruth

Hermann Gradnauer über den Kibbuz Cheruth

 

Der Hamelner Zahnarzt und Zionist Hermann Gradnauer hat eine sehr genaue Beschreibung der Anfänge des Kibbuz gegeben. Gradnauer wurde von den jungen Leute Vater genannt. "Er hat die Sache in der Hand gehabt", "er hat die Gruppe zusammengehalten". Gradnauer machte einen guten Teil der Organisation. Jungen und Mädchen, die mit dem Zug in Hameln ankamen, beherbergte er in seinem Haus am Kastanienwall. Er besorgte die Stellen bei den Bauern. Er organisierte die gesamte "Kulturarbeit", hielt selbst Vorträge, z.B. über "Egozentrische und soziale Triebe im Menschen". Jeden zweiten Sonntag kam er mit dem Zug von Hameln nach Aerzen gefahren.

"Der Anfang war höchst ärmlich. Es gab kaum etwas, womit man hätte werben können. Die Gründung war auf den 1. November 1926 festgesetzt, und es blieben nur zehn Chawerim (Genossen), die den Anfang des Kibbuz bildeten. Diese kleine Zahl war nicht nur hinsichtlich des moralischen Gewichts, sondern auch im wirtschaftlichen Sinne völlig unzureichend. Der Arbeitslohn im Winter war viel niedriger als im Sommer, und diese kleine Schar konnte den Unterhalt eines Tarbutniks (Kulturfunktionär) nur mit äußerster Anstrengung tragen. Der Winter 1926/27 war eine fortgesetzte Kette der Sorgen und Auseinandersetzungen.

Im Frühjahr scharten sich um den Kibbuz etwa zwanzig Menschen. Niemand verließ seinen Arbeitsplatz. Es gelang dem Kibbuz, eine Art eigener Tradition zu schaffen. Die Zusammenkünfte am Schabbat und Sonntag in Emmerthal, die erste feierliche Pegischa (Treffen) zu Chanukka im kleinen dunklen Gastzimmer des Wirtshauses in Ohr, der Kiddusch und die wichtige Ssicha (Diskussion) über Weg und Wesen des Kibbuz - sie alle stellten bereits den Anfang für die späteren Pegischot und Feiern dar.

 
Bild
 

Da bereits ein Anfang gemacht worden war, konnten die neuen Chawerim in die Arbeit eintreten und mit ihren frischen Kräften ihr einen Antrieb geben. Die neue Kwuza (Gruppe) kam größtenteils aus Berlin. Der Ruf des Kibbuz hatte sich inzwischen so sehr gebessert, daß die besten Chawerim aus allen Teilen des Bundes es als Ehre ansahen, in Hameln auf Hachscharah zu sein.

So lebte diese kleine Schar wie auf einer seligen Insel, genauer auf einer Insel von Aktiven mitten im erstarrten Meer des Zionismus in Deutschland, dessen Schekelzahler sich in diesem Jahr ganz besonders verringerten. Es schien so, als ob ein geheimnisvoller Zaun um diese Menschen gezogen war. ... Es herrschte ein Erez Israel-Geist; im Kleinen hatte ihr Leben die Gestalt Erez Israels mit all den Schwierigkeiten und all der Anstrengung, die das Leben im Lande verlangt, mit dem auf die Spitze getriebenen Idealismus und dem eigentümlichen Geist der Kameradschaftlichkeit.

Die unaufhörliche Konzentration der Kräfte nach innen schuf allmählich ein Kraftzentrum, das die Menschen über die gesamte zionistische Umgebung hinaushob und sie die schwierigen Bedingungen überwinden ließ: Das Wohnen in den Pferdeställen und Dachstübchen, das kärgliche Essen - all die Schwierigkeiten, die mit dem Eindringen in die körperliche Arbeit verbunden waren. Jeder, der sich daran erinnert, wie man an den Abenden nach einem schweren Arbeitstag ein oder zwei Stunden zu laufen pflegte, um zum Hebräisch-Unterricht zu gelangen, wie man an schwersten Arbeitsstellen durchhalten musste, wie jeder Pfennig vom Lohn in Rechnung gestellt wurde, wie jedes Geschenk, das vom Elternhause und von Verwandten kam, freudig in die gemeinsame Kupa (Kasse) gegeben wurde, wird kaum verstehen können, wie all das zustande gebracht wurde und woher diese Menschen die Kräfte geschöpft haben.

Und all die Menschen kamen doch unvorbereitet. Sie haben etwas von der Bundeserziehung mitgebracht, eine unklare Erkenntnis über den Kibbuz, aber auch einen sehr guten Willen. Und nun stürzte auf sie ein Strom von Ssichot, Unterrichtsstunden, Pegischot ein, so daß sie außerhalb der Arbeit wiederum nicht einen Augenblick Ruhe und Freiheit hatten.

Die Woche von Mosche (Brachmann) war aufs Genaueste eingeteilt: am Tage bereitete er sich vor und abends hatte er in einem der Dörfer zu sein. Jeden Abend musste er anderswo sein. Außerdem hatte er sich um die Arbeitsstellen zu kümmern, über die jeweils am Sonntag auf der allgemeinen Pegischa gesprochen wurde.

 
Bild
 

Diese allgemeine Pegischa war erzieherisch das Wichtigste. In den einzelnen Dörfern war die Kultur- und Erziehungsarbeit je nach der Zusammensetzung der Leute verschieden. Aber auf der Pegischa, alle Sonntag einmal in zwei Wochen, herrschte ein Geist allgemeiner Verantwortlichkeit und ungewöhnlicher Disziplin. In den stickigen Gaststätten in Aerzen, Linde und Holzhausen verbrachte man den ganzen Sonntag in Ssichot, außer den Stunden der Mittagspause, die dem Spiel und Sport gewidmet waren, manchmal auch in der Hirtenbude in Pyrmont. Erst später, als die Jugendburg bei Hameln uns zur Verfügung gestellt wurde, wurden die Chawerim von den Gastwirten unabhängig, die unzufrieden waren, da man keinen Alkohol verzehrte. Nun gab es einen bequemen Platz für die Pegischot. Die Mahlzeit bestand aus Stullen, die von zu Hause mitgebracht wurden, zusammen mit der Marmelade, die gekauft werden musste, da diese von den Bauern nicht gegeben wurde. Auch die Form stand fest, die Brote wurden vorher geschnitten und vorbereitet und an jeden verteilt. Erst auf die Losung "Leteawon" (Guten Appetit) wurde mit dem Essen begonnen.

Die Vorträge von Mosche über die Tagesprobleme, die Kurse von Ernst Katzenstein (Rechtsanwalt in Hameln) über die Grundlagen der Soziologie waren nur das schmückende Beiwerk, der Hauptinhalt der Ssicha bestand aus der gemeinsamen Errechnung des Arbeitslohnes, Beratungen über die Eroberung von Arbeitsplätzen und der Behandlung von einzelnen aktuellen Vorfällen. Es wurde über jeden einzelnen Chawer und über seine Beziehungen offen gesprochen, Fehler der Chawerim dienten nicht als Beschuldigung der Einzelnen, sondern waren Gegenstand einer grundsätzlichen Aussprache, die an Hand von Beispielen, die aus der Wirklichkeit geschöpft waren, lehren wollte, was der Chewra (Gesellschaft) schädlich ist und war ihre Entwicklung fördert. Rückhaltlos wurde Rechenschaft über jeden Lohnpfennig verlangt. Das war die schwerste Prüfung für jeden in seiner Beziehung zum Kibbuz, denn es ist kaum vorstellbar, was nicht alles offen und scharf jedem gesagt wurde. Aber die Chawerim nahmen auch diese Last auf sich, obwohl sie sich sehr schwer daran gewöhnen konnten, und zwar taten sie es aus dem Bewusstsein, daß nur auf diesem Weg das Gefühl der Verantwortlichkeit gestärkt werden kann. ... daß er vor das Gericht der Öffentlichkeit gestellt wird.

Es war ein schwerer Weg: der Weg von der Rosch Haschana-Pegischa 1927 bei Pyrmont, der Weihnachts-Pegischa in der Jugendherberge in Lippe, der Pessach-Pegischa in Griessem, der Schwuot-Pegischa in Dölme an der Weser, nach der unsere liebe kleine Chawera Lucie Fisser krank wurde, um nicht wieder zu gesunden, und bis zu den feierlichen Pegischot in der Jugendburg. Jede Pegischa war in Hameln ein Meilenstein in der Entwicklung des Kibbuz. Dieser Weg führte über eine Reihe von Vereinigungen: mit der Kwuzat Chulia, mit dem Beth-Chaluz in Leipzig, mit der Handwerker-Kwuza in Berlin bis zur Alija der ersten Gruppe des Kibbuz im Januar 1929."

 
Bild