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Die Stadt Hameln und ihre Juden
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Der Kibbuz Cheruth in den Dörfern um Aerzen in den Jahren 1926 – 1930

Stärke und Bedeutung des Kibbuz Cheruth

Worin liegt die Fähigkeit von Cheruth begründet, den Krisenjahren zu trotzen?

Der Hinweis auf die Willensstärke und das Charisma von Hermann Gradnauer, diesem frühen Pionier, der in Palästina im Kibbuz Ein Charod Erfahrungen gesammelt hatte und trotz seiner Rückkehr nach Deutschland am Zionismus festhielt, wird nicht ausreichen.

Weiter hilft ein genauerer Blick auf die Mitglieder des Kibbuz. Um deren Motive deutlicher zu machen, sollen zwei Personen von ihrer Herkunft her näher vorstellt werden.

Jaakov Kamber wurde 1909 in St. Petersburg (Russland) in einem wohlhabenden bürgerlich, liberal und deutsch orientierten Elternhaus geboren. Die Schule besuchte er in Danzig und war seit 1923, mit 14 Jahren, im jüdischen Jugendbund Blau-Weiß; seit 1926 im Brit Haolim organisiert. Nach dem Abitur 1927 meldete er sich gegen den Widerstand der Eltern im Hechaluz-Büro in Berlin und bekam eine Hachschara-Stelle in Holzhausen, dann Lügde. Als Ausländer hatte er in Deutschland keine Arbeitserlaubnis und musste, um der Polizei zu entgehen, öfter die Stelle wechseln. Aus diesem Grunde wechselte er auch nach Wolfenbüttel. Die letzten Monate vor der Abreise verbrachte er mit anderen Mitgliedern des Kibbuz auf einem Gut in Mecklenburg. Jaakov Kamber gehörte zur zweiten Auswanderergruppe des Kibbuz Cheruth, die Europa am 28. Februar 1929 mit dem Schiff von Triest verließ. Jaakov arbeitete als Kutscher im Kibbuz Givat Brenner.

Hanni Wertheim wurde als Hanni Nussbaum 1911 in Nürnberg geboren. Die Familie, die 1904 aus der Gegend von Radom nach Nürnberg gezogen war, besaß nicht die deutsche, sondern die polnische Staatsangehörigkeit. Sie wurde deswegen durch die deutschen Behörden diskriminiert. Bereits mit 10 Jahren ging Hanni Wertheim zum jüdischen Jugendbund Blau-Weiß und begann, selbstständig hebräisch zu lernen. Sie nahm Kontakt zum linkszionistischen Brit Haolim auf und kam im Herbst 1928 mit 16 Jahren auf Hachschara nach Hameln.

"Ich war für Sozialismus. Für die Arbeiterbewegung. Daß man arbeiten soll, daß man nicht ausnützen soll. Ziemlich einfach eigentlich. ... Und natürlich, daß die Juden die Produktivierung erreichen müssen, ... besonders in Deutschland, in dem die meisten Juden in oberen Schichten lebten. ... Das war uns damals wichtig, die Losung, die ganz einfachen Arbeiten zu machen."

Nach zwei Stellen in Pyrmont und Aerzen ging sie im Sommer 1929 nach Wolfenbüttel. Im Dezember 1929 wanderte sie nach Palästina aus. In Givat Brenner lebte sie lange im Zelt und arbeitete als Wäscherin.

Eine Durchsicht der Meldebücher von Aerzen und den umliegenden Dörfern hat ergeben, dass die Mehrheit der Mitglieder des Kibbuz aus Osteuropa stammte und dass entweder ihre Eltern oder sie selbst dort geboren waren. Überwiegend hatten sie, obwohl sie in der Regel bereits in Deutschland geboren waren, die Staatsbürgerschaft ihrer Herkunftsländer.

Mehrere stammten aus Galizien und waren österreichische Staatsbürger. Viele hatten polnische Wurzeln. Zahlreiche polnische Juden waren um 1900 nach Deutschland gegangen. Von deutschen Behörden wurden sie wegen ihrer polnischen Staatsangehörigkeit schikaniert und bisweilen wollten schon die Eltern nach Palästina. Weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft hatten, hatten sie als Mitglieder des Kibbuz ständig Probleme mit der Arbeitserlaubnis. Andere hatten durch die Reichsgründung 1871 die deutsche Staatsbürgerschaft erworben, blieben aber ihrer ostjüdischen Herkunft verhaftet. Wieder andere kamen aus Russland. Sie gehörten dort zur assimilierten jüdischen Intelligenz und höheren Kaufmannschaft und waren nach Deutschland wegen der bolschewistischen Revolution geflüchtet. Eindeutig westeuropäische Juden waren hingegen nur selten unter den Mitgliedern vertreten.

Die ostjüdische Herkunft ist für die Erklärung der Motive des Kibbuz Cheruth von entscheidender Bedeutung. Zu Cheruth gingen Menschen, die kein Vertrauen in die Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose hatten und spürten, "daß der Boden für eine Existenz in Deutschland schwankend war." Während die deutschen Juden sich in der großen Mehrzahl als "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" verstanden, war bei den jungen Mitgliedern des Kibbuz aus dem osteuropäischen Lebenszusammenhang "doch ein Stück 'Jüdischkeit' erhalten" geblieben, "das sich nicht nur als Mentalität ausdrückte, sondern auch in einer stärkeren Verbundenheit mit der Religion und den ... Gebräuchen."

Der entscheidende Anstoß, mit der Auswanderung Ernst zu machen und auf eine bürgerliche Berufs- und Lebensperspektive in Deutschland zu verzichten, kam aus der besonderen Sensibilität dieser Jugendlichen für die Unsicherheit ihrer Lage in Deutschland und Europa. Aus der Gewissheit, keine Deutschen zu sein, wollten sie mit Hilfe des Zionismus ihre jüdische Identität wieder erlangen.

Ungeachtet aller Anzeichen, die auf ein starkes Wachsen des Antisemitismus in der Weimarer Zeit hin deuteten, glaubte die Mehrheit der deutschen Juden, in Deutschland ihre Heimat und Zukunft zu haben. Sie lehnte die Auswanderung nach Palästina als Gefährdung der jüdischen Existenz in Deutschland vehement ab.

Dov Stok:

"Dieses Kopfschütteln begleitete Cheruth ständig. Eltern, Bekannte, jeder vernünftige, normale Mensch schüttelte den Kopf. Es gab naturgemäß auch verschiedene Erklärungen: Jugendnarreteien, Kaprisen aus Wohlsein, Idealismus. Heute wissen alle, daß diese wenigen Jungen und Mädchen den großen und einzigen Spürsinn für die Wirklichkeit hatten."

Im Laufe des Jahres 1930 ist die Geschichte des Kibbuz Cheruth bereits beendet. Über sein Ende ist nichts bekannt. Die beginnende Weltwirtschaftskrise mit der hohen Arbeitslosigkeit und dem nun offen aufbrechenden Antisemitismus mögen dem Fortbestehen des Kibbuz im Wege gestanden haben. Gewiss ist auch die Auswanderung der führenden Köpfe des Kibbuz für sein Ende verantwortlich.

Trotz der kurzen Zeit seines Bestehens war der Kibbuz Cheruth außerordentlich bedeutsam. Er bildete eine wichtige Voraussetzung für die deutsche Auswanderung nach Palästina in den Jahren nach 1933.

"Wie hätten wir die neue Massenalijah aufnehmen können, die nach 1933 zu uns kam, wenn wir nicht durch den Kibbuz Cheruth jene Grundlagen geschaffen hätten, die die Möglichkeiten gaben, die deutsche Alijah zur größten Alijah im Kibbuz zu machen?"

 

Diese Darstellung ist eine Kurzfassung des Originals. Die vollständige Fassung mit Belegen und Literatur findet sich demnächst auf www.gelderblom-hameln.de.

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© Bernhard Gelderblom Hameln